Eine Kriminalgeschichte mit Kindheitserinnerungen
Sprudi-Siggi
Ja, nun ist das über Dreißig
Jahre her. Damals ,Anfang der Achtziger, war ich so 12 Jahre alt. Ich erinnere
mich an vieles aus dieser Zeit in Kattenturm. An das Marine-Grundstück ,zum
Beispiel, das damals ein Acker war, mit einer Wiese ,auf der einmal im Jahr ein
Zirkus gastierte, den Rodelberg beim Spielhaus, der im Winter ein zentraler
Treffpunkt war. Oder jene dreibeinige Katze, eine grau getigerte alte Katze,
die nachts auf dem Rasen hinter unserem Wohnblock herum schlich.
Irgendwie hatte sie etwas Unheimliches
an sich, wenn sie im Dunkeln über den Rasen humpelte, und wir dichteten ihr
alle toten Vögel an, die wir in den Büschen fanden.
Aber ich erinnere mich auch an ganz dunkle Dinge.
In diesem Sommer herrschte
Angst in unserem Viertel. Zwei Kinder waren in den letzten drei Monaten
verschwunden, und nun, es war Anfang August, ein weiteres. Als Kind begreift
man diese Dinge noch nicht so richtig, aber man hört aus den Gesprächen der
Erwachsenen ,das etwas sehr schlimmes passiert ist. Das Kinder wohl tot,
ermordet waren.
Unter uns Kindern war klar,
wer es war.
„Sprudi- Siggi läuft hier rum, und holt kleine Kinder ,seid
vorsichtig“, hiess es , und wenn er mal vorbei kam, wichen wir aus und
versteckten uns.
Sprudi- Siggi war ein alter
weißhaariger Mann mit weißem Vollbart,in einem schmutzigen Mantel und ebenso schmutzigen Hosen und derben
Stiefeln an den Füssen, der regelmäßig die Strasse entlang lief und die
Mülltonnen durchsuchte.
Ein irgendwie unheimlicher
Mensch, der uns ,wenn er uns sah, mit finsterem Blick anstarrte. Woher er den
Namen hatte und wo er her kam ,wusste niemand, aber er gehörte irgendwie zum
Bild unseres Viertels.
Natürlich wurde er ,in Folge
des Verschwindens der Kinder argwöhnisch beäugt, aber unsere Meinung, das er
dahinter steckte teilte niemand. Er war einfach ein wunderlicher alter
Eigenbrötler.
Damals hatte ich einen
Freund, Conny, mit dem ich viele und manchmal weite Ausflüge unternahm, aufs
Land, das damals hinter dem neu gebauten Gemeinschaftszentrum begann oder die
weitesten meines Lebens, was bedeutete ,z.B. nach Habenhausen ,wo der
Weserdeich gebrochen , und das Kleingartengebiet überschwemmt war.
Und er sagte eines Tages zu
mir:
“Ich weiß wo sie sind“
„Wer?“, fragte ich
„Na, die Kinder. Ich weiß, wo
er sie hin gebracht hat“
„Echt? wohin?“
„Bei den grünen Bergen, Ich hab´ gesehen, das
er da auch oft rum läuft.“
Die grünen Berge waren
aufgeschüttete Erdhügel, die in Arsten, hinter dem GZ aufgeschüttet ,und mit der Zeit grün
bewachsen waren. Da wo jetzt ein Wohngebiet ist , zwischen Straßenbahndamm und
Autobahn, waren damals Felder und Wiesen .Hier spielten wir oft und erkundeten
die Landschaft .Die Grünen Berge lagen mehr in Richtung Autobahn.
„Aber wie sollen wir das
beweisen?“, fragte ich.
Ich muss gestehen, das ich schon damals viele
Detektivgeschichten gelesen hatte und
mich so ein Abenteuer darum reizte.
„Wir müssten ihm folgen“,
meinte Conny „Dann führt er uns zu ihnen. Mörder kommen immer zu ihrem Tatort
zurück.“
Die Gelegenheit bot sich uns
am nächsten Tag. Es war Nachmittag ,und da kam er. Als er an uns vorbeiging,
die wir an der Alfred –Faust-Strasse unter der Fußgängerbrücke standen, welche
es heute nicht mehr gibt, warf er uns seinen üblichen finsteren Blick unter
seiner Mütze zu.
Wir warteten eine Weile ab, bis er gerade noch zu sehen war,
er sollte uns ja nicht bemerken, dann folgten wir ihm, wobei wir jede
Möglichkeit nutzten, Deckung zu nehmen, damit er uns nicht sah.
An der Ecke
Emil-Richter-Strasse, blieb er stehen und durchsuchte einen Müll-Container.
Nach etwa zehn Minuten ging er weiter.
Der Weg führte nun entlang der
Alfred-Faust-Strasse, am Gemeinschaftszentrum vorbei, und tatsächlich, den
Wiesen und Äckern zu. Einmal mussten wir uns hinter einen Busch ducken, weil er
sich umsah .
Als wir wieder hervor kamen, war er verschwunden, doch waren wir
sicher ,das wir auf der richtigen Spur waren. Wir folgten also der Strasse
weiter, und da ,auf dem Feldweg, der von der Strasse abbog, sah man deutlich
die Spur eines Fahrrades, der wir mit Feuereifer folgten.
Sie führte den Feldweg
entlang der zunächst bis zu einem Steg über den Fleet führte .Hinter dem Steg
fanden wir sie wieder. Wir waren jetzt praktisch in der Wildnis. Links und
Rechts neben dem Weg war alles dicht bewachsen mit Gras, Klee und unzähligen
anderen Pflanzen .Es summte und schwirrte um sie herum von tausenden Insekten.
Weiter vorbei ging es an Getreidefeldern,
die im seichten Wind rauschten ,aber unsere Aufmerksamkeit galt vor allem der
Spur ,die wirklich den grünen Bergen zu führte .Vor ihnen bog die Spur nach
Rechts.
Hier war ein großes Maisfeld ,dessen Pflanzen bereits so hoch waren,
das sie einen Jungen wie mich überragten. Die Spur führte am Feld vorbei, bis
sie kurz vor einer Gebüschinsel endete. Er schien hier in den Mais gefahren zu
sein.
Wir gingen also hinein.
Abgeknickte Maispflanzen wiesen uns den Weg.
„Schneller, sonst entkommt er uns“ rief Conny leise .
Wir begannen zu laufen, es
ging nun dem Gebüsch zu, und als wir es betraten, passierte es. Ich stolperte
plötzlich über etwas hartes und schlug hin.
“Verflixt“, stieß ich hervor
,ich rappelte mich auf ,fuhr über meine Kleider, um mich zu reinigen, und
fasste, als ich meine Hose reinigen wollte ,in etwas schmieriges .Ich sah meine
Hände an. Es klebte etwas Rotes an ihnen , und auch an der Hose. Es war- ja ,es
war tatsächlich Blut!
Hatte ich mich verletzt? Aber
nein , alles war in Ordnung. Doch woher kam dann das Blut? Ich sah hinunter,
auf das worüber ich gestolpert war.
Es war ein kleines Bündel , das dort lag.
Ich betrachtete es genau, schob mit dem rechten Fuß vorsichtig das Reisig zur
Seite , von dem es bedeckt war, und erschrak zu Tode.
Das totenbleiche Gesicht
eines kleinen Mädchens starrte mich aus gebrochenen Augen an. Mein Gott, ich
kannte die Kleine! Sie stammte aus unserer Nachbarschaft. Sie war das letzte
verschwundene Kind .Ihr Bild hing mit denen der anderen vermissten ja überall.
Nun sah ich auch woher das
Blut kam. Ihre Kehle war durchschnitten und teils geronnenes Blut war aus der
Wunde über den Körper gelaufen. Als ich
über sie gestolpert war, musste ich die Blutverschmierte Seite berührt haben.
Mir wurde schlecht.
Ich lehnte mich an einen
naheliegenden Baum, und rief nach Conny. Als er kam ,und die Leiche sah, weiteten
sich auch seine Augen vor Schreck.
„Mensch, wir haben ´s gefunden !Meinst du
,die anderen sind auch hier?“
Ich sah mich um , entdeckte in der Nähe plötzlich
einen kleinen, ebenfalls mit Reisig bedeckten Hügel und schluckte. Conny folgte
meinem Blick ,und sah mich an. Auch sein Gesicht war jetzt totenblass.
„Wir müssen doch was machen“,
sagte ich „Wir müssen die Polizei holen“
„Richtig, erstmal zurück an
den Weg“, sagte er.
Es gab nichts, was ich in
diesem Moment lieber getan hätte, und so gingen wir an den Feldweg zurück.
„Aber einer von uns muss hier
bleiben, damit wir es wiederfinden.
Ich schluckte
„Allein?“
„Wie denn sonst, oder siehst du noch jemanden
hier ? Komm wir losen es aus.“
Ehe ich noch etwas sagen
konnte, hatte er zwei Grashalme gesucht ,die er mir nun entgegen streckte.
“Wer
den kürzeren zieht, bleibt hier“, sagte er.
Ich hatte noch nie viel Glück beim Losen
gehabt und auch dieses Mal wurde diese Pechsträhne nicht durchbrochen.
So blieb ich also zurück und
Conny lief los. Ich drückte mich ein wenig ins Gebüsch. Die Zeit wurde endlos
lang .Es begann bereits zu dämmern, als ich eine Bewegung wahrnahm.
Ich freute
mich zunächst, weil ich dachte, Conny kommt mit der Polizei und ich wäre
erlöst. Doch dann sah ich ,das es jemand mit einem Fahrrad war. Sprudi- Siggi,
er kam zurück!
Ich drückte mich tiefer ins Gebüsch und kroch unter einen
dichten Busch. Er lies das Fahrrad beim Gebüsch stehen. Ich sah zwei derbe
Stiefel an mir vorbeigehen und folgte ihm mit meinem Blick.
Vor dem toten Mädchen blieb
er stehen und stutzte.
„Wer hat es gewagt, dich
anzusehen, das steht nur mir zu“, sagte er leise.
Ich hatte Sprudi- Siggi noch nie reden gehört
und irgendwie passte seine Stimme nicht zu dem alten Mann .Sie klang jung .War
fast sanft und ruhig. Komisch!
Er beugte sich zu ihr
herunter, streichelte zärtlich ihr Gesicht und küsste sie auf die Stirn. Ganz
so ,wie ein Vater, der sein schlafendes Kind sieht und streichelt! Mir wurde
wieder schlecht.
Dann erhob er sich und ging
zu dem kleinen Hügel . Er wollte sich gerade hinunter beugen, da stutzte er
,und sah auf. Hatte er mich entdeckt? Mein Herz schlug bis zum Hals. Doch da
hörte ich es auch. Ein leises Motorengeräusch. Das mussten Conny und die
Polizei sein. Eilig schritt er zu seinem Fahrrad, schwang sich hinauf, und fuhr
davon. Im nächsten Moment wurde das Gebüsch von Scheinwerferlicht erhellt. Es
war die Polizei.
Unter dem kleinen Hügel
fanden sie tatsächlich noch eine Leiche, ebenfalls ein kleines Mädchen und ein
Stück nahe dem Maisfeld eine weitere, diesmal ein Junge. Die beiden anderen
vermissten Kinder. Kurzzeitig waren wir das Tagesgespräch. Der Fall lief sogar
in XY. Sprudi- Siggi wurde verhaftet aber wieder frei gelassen. Man konnte ihm
die Taten nicht nachweisen .Ja, er war öfter dort in der Nähe ,aber um Beeren
zu Pflücken.
Seitdem sah er uns noch
finsterer an, wenn er vorbei kam. Zunächst herrschte große Unruhe, angesichts
eines Kindermörders in der Gegend. Doch da kein weiters Kind verschwand
verflachte es bald ,zumal auch die
Ermittlungen im Sand verliefen. Etwas später zogen wir weg. Nach Habenhausen.
Inzwischen waren zwei Jahre vergangen, da
konnte man in der Zeitung lesen, das der Mörder gestellt war. Auch er war umgezogen
und hatte am neuen Wohnort noch zwei Kinder getötet. Als man ihn ,mehr durch
Zufall dort gefasst hatte ,gestand er auch die Drei Morde in Kattenturm ein. Es
war nicht Sprudi- Siggi, von dem ich auch nie wieder etwas gehört hatte .Es war
ein jüngerer Mann,35 Jahre alt, aus unserer Nachbarschaft.
Er hatte in Kattenturm in
jenem Wohnblock gewohnt, in dem auch wir
gewohnt hatten! Ich erschauerte bei dem Gedanken, wie nahe ich dem Tod gewesen
war. Es hätte mich genauso treffen können. Oder Conny, der ebenfalls in unserem
Block wohnte.
Ich erinnere mich oft an
diesem Sommer ,in dem ich die kindliche Unschuld verlor und durch einen Schock
erwachsen wurde ,als ich zum ersten Mal direkt mit dem Tod konfrontiert wurde.