Sonntag, 18. Mai 2014

Sprudi-Siggi


Eine  Kriminalgeschichte mit Kindheitserinnerungen

 


Sprudi-Siggi

Ja, nun ist das über Dreißig Jahre her. Damals ,Anfang der Achtziger, war ich so 12 Jahre alt. Ich erinnere mich an vieles aus dieser Zeit in Kattenturm. An das Marine-Grundstück ,zum Beispiel, das damals ein Acker war, mit einer Wiese ,auf der einmal im Jahr ein Zirkus gastierte, den Rodelberg beim Spielhaus, der im Winter ein zentraler Treffpunkt war. Oder jene dreibeinige Katze, eine grau getigerte alte Katze, die nachts auf dem Rasen hinter unserem Wohnblock herum schlich.

Irgendwie hatte sie etwas Unheimliches an sich, wenn sie im Dunkeln über den Rasen humpelte, und wir dichteten ihr alle toten Vögel an, die wir in den Büschen fanden.

Aber ich erinnere mich  auch an ganz dunkle Dinge.
In diesem Sommer herrschte Angst in unserem Viertel. Zwei Kinder waren in den letzten drei Monaten verschwunden, und nun, es war Anfang August, ein weiteres. Als Kind begreift man diese Dinge noch nicht so richtig, aber man hört aus den Gesprächen der Erwachsenen ,das etwas sehr schlimmes passiert ist. Das Kinder wohl tot, ermordet waren.

Unter uns Kindern war klar, wer es war.
 „Sprudi- Siggi läuft hier rum, und holt kleine Kinder ,seid vorsichtig“, hiess es , und wenn er mal vorbei kam, wichen wir aus und versteckten uns.
Sprudi- Siggi war ein alter weißhaariger Mann mit weißem Vollbart,in einem schmutzigen Mantel  und ebenso schmutzigen Hosen und derben Stiefeln an den Füssen, der regelmäßig die Strasse entlang lief und die Mülltonnen durchsuchte. 
Ein irgendwie unheimlicher Mensch, der uns ,wenn er uns sah, mit finsterem Blick anstarrte. Woher er den Namen hatte und wo er her kam ,wusste niemand, aber er gehörte irgendwie zum Bild unseres Viertels.

Natürlich wurde er ,in Folge des Verschwindens der Kinder argwöhnisch beäugt, aber unsere Meinung, das er dahinter steckte teilte niemand. Er war einfach ein wunderlicher alter Eigenbrötler.

Damals hatte ich einen Freund, Conny, mit dem ich viele und manchmal weite Ausflüge unternahm, aufs Land, das damals hinter dem neu gebauten Gemeinschaftszentrum begann oder die weitesten meines Lebens, was bedeutete ,z.B. nach Habenhausen ,wo der Weserdeich gebrochen , und das Kleingartengebiet überschwemmt war.
Und er sagte eines Tages zu mir:
 “Ich weiß wo sie sind“  
„Wer?“, fragte ich
„Na, die Kinder. Ich weiß, wo er sie hin gebracht hat“
 „Echt? wohin?“
 „Bei den grünen Bergen, Ich hab´ gesehen, das er da auch oft rum läuft.“

Die grünen Berge waren aufgeschüttete Erdhügel, die in Arsten, hinter dem GZ  aufgeschüttet ,und mit der Zeit grün bewachsen waren. Da wo jetzt ein Wohngebiet ist , zwischen Straßenbahndamm und Autobahn, waren damals Felder und Wiesen .Hier spielten wir oft und erkundeten die Landschaft .Die Grünen Berge lagen mehr in Richtung Autobahn.
„Aber wie sollen wir das beweisen?“, fragte ich.
 Ich muss gestehen, das ich schon damals viele Detektivgeschichten gelesen hatte  und mich so ein Abenteuer darum reizte.
„Wir müssten ihm folgen“, meinte Conny „Dann führt er uns zu ihnen. Mörder kommen immer zu ihrem Tatort zurück.“

Die Gelegenheit bot sich uns am nächsten Tag. Es war Nachmittag ,und da kam er. Als er an uns vorbeiging, die wir an der Alfred –Faust-Strasse unter der Fußgängerbrücke standen, welche es heute nicht mehr gibt, warf er uns seinen üblichen finsteren Blick unter seiner Mütze zu. 

Wir warteten eine Weile ab, bis er gerade noch zu sehen war, er sollte uns ja nicht bemerken, dann folgten wir ihm, wobei wir jede Möglichkeit nutzten, Deckung zu nehmen, damit er uns nicht sah.

An der Ecke Emil-Richter-Strasse, blieb er stehen und durchsuchte einen Müll-Container. Nach etwa zehn Minuten ging er weiter. 

Der Weg führte nun entlang der Alfred-Faust-Strasse, am Gemeinschaftszentrum vorbei, und tatsächlich, den Wiesen und Äckern zu. Einmal mussten wir uns hinter einen Busch ducken, weil er sich umsah .

Als wir wieder hervor kamen, war er verschwunden, doch waren wir sicher ,das wir auf der richtigen Spur waren. Wir folgten also der Strasse weiter, und da ,auf dem Feldweg, der von der Strasse abbog, sah man deutlich die Spur eines Fahrrades, der wir mit Feuereifer folgten.

Sie führte den Feldweg entlang der zunächst bis zu einem Steg über den Fleet führte .Hinter dem Steg fanden wir sie wieder. Wir waren jetzt praktisch in der Wildnis. Links und Rechts neben dem Weg war alles dicht bewachsen mit Gras, Klee und unzähligen anderen Pflanzen .Es summte und schwirrte um sie herum von tausenden Insekten.

Weiter vorbei ging es an Getreidefeldern, die im seichten Wind rauschten ,aber unsere Aufmerksamkeit galt vor allem der Spur ,die wirklich den grünen Bergen zu führte .Vor ihnen bog die Spur nach Rechts. 

Hier war ein großes Maisfeld ,dessen Pflanzen bereits so hoch waren, das sie einen Jungen wie mich überragten. Die Spur führte am Feld vorbei, bis sie kurz vor einer Gebüschinsel endete. Er schien hier in den Mais gefahren zu sein.

Wir gingen also hinein. Abgeknickte Maispflanzen wiesen uns den Weg.  
 „Schneller, sonst entkommt er uns“  rief Conny leise .
Wir begannen zu laufen, es ging nun dem Gebüsch zu, und als wir es betraten, passierte es. Ich stolperte plötzlich über etwas hartes und schlug hin.

“Verflixt“, stieß ich hervor ,ich rappelte mich auf ,fuhr über meine Kleider, um mich zu reinigen, und fasste, als ich meine Hose reinigen wollte ,in etwas schmieriges .Ich sah meine Hände an. Es klebte etwas Rotes an ihnen , und auch an der Hose. Es war- ja ,es war tatsächlich  Blut!

Hatte ich mich verletzt? Aber nein , alles war in Ordnung. Doch woher kam dann das Blut? Ich sah hinunter, auf das worüber ich gestolpert war.

 Es war ein kleines Bündel , das dort lag. Ich betrachtete es genau, schob mit dem rechten Fuß vorsichtig das Reisig zur Seite , von dem es bedeckt war, und erschrak zu Tode.

Das totenbleiche Gesicht eines kleinen Mädchens starrte mich aus gebrochenen Augen an. Mein Gott, ich kannte die Kleine! Sie stammte aus unserer Nachbarschaft. Sie war das letzte verschwundene Kind .Ihr Bild hing mit denen der anderen vermissten ja überall.

Nun sah ich auch woher das Blut kam. Ihre Kehle war durchschnitten und teils geronnenes Blut war aus der Wunde über den Körper  gelaufen. Als ich über sie gestolpert war, musste ich die Blutverschmierte Seite berührt haben. Mir wurde schlecht.

Ich lehnte mich an einen naheliegenden Baum, und rief nach Conny. Als er kam ,und die Leiche sah, weiteten sich auch seine Augen vor Schreck. 

„Mensch, wir haben ´s gefunden !Meinst du ,die anderen sind auch hier?“ 
Ich sah mich um , entdeckte in der Nähe plötzlich einen kleinen, ebenfalls mit Reisig bedeckten Hügel und schluckte. Conny folgte meinem Blick ,und sah mich an. Auch sein Gesicht war jetzt totenblass. 
„Wir müssen doch was machen“, sagte ich „Wir müssen die Polizei holen“
„Richtig, erstmal zurück an den Weg“, sagte er.
Es gab nichts, was ich in diesem Moment lieber getan hätte, und so gingen wir an den Feldweg zurück.

„Aber einer von uns muss hier bleiben, damit wir es wiederfinden.
Ich schluckte 
„Allein?“
 „Wie denn sonst, oder siehst du noch jemanden hier ? Komm wir losen es aus.“
Ehe ich noch etwas sagen konnte, hatte er zwei Grashalme gesucht ,die er mir nun entgegen streckte.
 “Wer den kürzeren zieht, bleibt hier“, sagte er.
 Ich hatte noch nie viel Glück beim Losen gehabt und auch dieses Mal wurde diese Pechsträhne nicht durchbrochen.

So blieb ich also zurück und Conny lief los. Ich drückte mich ein wenig ins Gebüsch. Die Zeit wurde endlos lang .Es begann bereits zu dämmern, als ich eine Bewegung wahrnahm.

 Ich freute mich zunächst, weil ich dachte, Conny kommt mit der Polizei und ich wäre erlöst. Doch dann sah ich ,das es jemand mit einem Fahrrad war. Sprudi- Siggi, er kam zurück! 

Ich drückte mich tiefer ins Gebüsch und kroch unter einen dichten Busch. Er lies das Fahrrad beim Gebüsch stehen. Ich sah zwei derbe Stiefel an mir vorbeigehen und folgte ihm mit meinem Blick.

Vor dem toten Mädchen blieb er stehen und stutzte.
„Wer hat es gewagt, dich anzusehen, das steht nur mir zu“, sagte er leise.
 Ich hatte Sprudi- Siggi noch nie reden gehört und irgendwie passte seine Stimme nicht zu dem alten Mann .Sie klang jung .War fast sanft und ruhig. Komisch!

Er beugte sich zu ihr herunter, streichelte zärtlich ihr Gesicht und küsste sie auf die Stirn. Ganz so ,wie ein Vater, der sein schlafendes Kind sieht und streichelt! Mir wurde wieder schlecht.

Dann erhob er sich und ging zu dem kleinen Hügel . Er wollte sich gerade hinunter beugen, da stutzte er ,und sah auf. Hatte er mich entdeckt? Mein Herz schlug bis zum Hals. Doch da hörte ich es auch. Ein leises Motorengeräusch. Das mussten Conny und die Polizei sein. Eilig schritt er zu seinem Fahrrad, schwang sich hinauf, und fuhr davon. Im nächsten Moment wurde das Gebüsch von Scheinwerferlicht erhellt. Es war die Polizei.

Unter dem kleinen Hügel fanden sie tatsächlich noch eine Leiche, ebenfalls ein kleines Mädchen und ein Stück nahe dem Maisfeld eine weitere, diesmal ein Junge. Die beiden anderen vermissten Kinder. Kurzzeitig waren wir das Tagesgespräch. Der Fall lief sogar in XY. Sprudi- Siggi wurde verhaftet aber wieder frei gelassen. Man konnte ihm die Taten nicht nachweisen .Ja, er war öfter dort in der Nähe ,aber um Beeren zu Pflücken.

Seitdem sah er uns noch finsterer an, wenn er vorbei kam. Zunächst herrschte große Unruhe, angesichts eines Kindermörders in der Gegend. Doch da kein weiters Kind verschwand verflachte es bald  ,zumal auch die Ermittlungen im Sand verliefen. Etwas später zogen wir weg. Nach Habenhausen.

 Inzwischen waren zwei Jahre vergangen, da konnte man in der Zeitung lesen, das der Mörder gestellt war. Auch er war umgezogen und hatte am neuen Wohnort noch zwei Kinder getötet. Als man ihn ,mehr durch Zufall dort gefasst hatte ,gestand er auch die Drei Morde in Kattenturm ein. Es war nicht Sprudi- Siggi, von dem ich auch nie wieder etwas gehört hatte .Es war ein jüngerer Mann,35 Jahre alt, aus unserer Nachbarschaft.

Er hatte in Kattenturm in jenem Wohnblock  gewohnt, in dem auch wir gewohnt hatten! Ich erschauerte bei dem Gedanken, wie nahe ich dem Tod gewesen war. Es hätte mich genauso treffen können. Oder Conny, der ebenfalls in unserem Block wohnte.

Ich erinnere mich oft an diesem Sommer ,in dem ich die kindliche Unschuld verlor und durch einen Schock erwachsen wurde ,als ich zum ersten Mal direkt mit dem Tod konfrontiert wurde.